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Verantwortung für alle

Wie unter­scheidet sich Politik für Stadtmenschen und Landbewohner?

Von Roman Deininger

Vor ein paar Monaten war ich für eine Recherche in Maselheim, einer 4.600-Einwohner-Gemeinde eine halbe Autostunde von Ulm, hübsch gebettet in die Hügel und Täler Oberschwabens. Vor einer Bäckerei fragte ich eine ältere Dame, ob ich sie für ein kurzes Interview auf einen Kaffee einladen dürfe. Es sollte um Elmar Braun gehen, den ersten grünen Bürgermeister der Republik, der Maselheim dreißig Jahre lang regiert hatte. Die Dame war entgeistert – und das lag nicht am Thema. Eine Kaffeepause mitten am Werktag? Das hielt sie einfach für unangebracht.

Die kulturelle Kluft zwischen Stadt und Land ist ein zentrales Motiv des politischen Jahres 2023. In Maselheim wurde mir wieder mal vor Augen geführt, dass sich die Lebensgefühle hier und dort halt doch unterscheiden: Ein gemütlicher Kaffee zwischendrin, das gehört in Berlin oder München zum Lifestyle. In Maselheim ist das, salopp gesagt, eine Vergeudung wertvoller Zeit, die man auch für Arbeit oder Familie nutzen könnte.

Wenn nicht alles täuscht, haben die Großkrisen der vergangenen Jahre den Graben zwischen Stadt und Land sogar noch wachsen lassen. Die Migration, die Pandemie, die Energie- und Wirtschaftsprobleme nach dem russischen Überfall auf die Ukraine: Tatsächliche und gefühlte Belastungen er­höhen den Druck auf die Nahtstellen der Gesellschaft. Diese schwierige Gemengelage ist vor allem eine Herausforderung für die Politik – aber sie fordert auch von uns Journalisten besondere Sensi­bilität.

Ein gewisser Dualismus zwischen Stadt und Land ist weder neu noch gefährlich. Neu und gefährlich ist allerdings, dass sich daraus eine Bruchlinie der Gesellschaft entwickelt hat. Soziologen wie Andreas Reckwitz oder Heinz Bude haben das scharfsinnig beschrieben. Die Bruchlinie bestimmt den Blick auf den stürmischen Wandel unserer Zeit: auf Digitalisierung und Globalisierung, auf Klima­schutz und Migration. Die Menschen auf der einen Seite der Linie sehen in diesem Wandel eher eine Chance – jene auf der anderen Seite sehen darin eher eine Bedrohung.

Wenn ich den bayerischen Landtagswahlkampf 2023, den ich als Reporter eng begleitet habe, in einer einzigen Beobachtung verdichten sollte, dann wäre das diese: Viele Menschen in der sogenannten Provinz haben den Eindruck, dass in den Zentren, besonders in Berlin, Politik vor allem für die Großstädter gemacht wird. Das Auto und das eigene Haus, der Schweinsbraten und überhaupt die ländliche Lebenswelt: alles infrage gestellt vom Reformeifer der Ampel-Regierung in der fernen Bundeshauptstadt. Im Detail mag das gar nicht stimmen. Aber die Leute empfinden es so.

Die Vermischung materieller und kultureller Verlust­ängste düngt derzeit den Boden für extreme Parteien. Teile der Gesellschaft haben ihre Gelassen­heit verloren, die nicht zuletzt darauf gründete, dass Leistung belohnt und Lebensleistung respektiert wird. Umso wichtiger ist es in einer so heiklen Phase, dass die Politik erstens ihr Handeln gut erklärt. Und zweitens echte Empathie zeigt für jene Menschen, die sich gerade nicht ausreichend gehört fühlen.

Natürlich ist die Unterteilung in Stadt und Land voller Ausnahmen und fließender Übergänge. Die meisten Deutschen leben in Klein- und Mittelstädten, und so mancher Großstädter war eben noch ein Landkind. Und selbstverständlich sind auch weite Teile der deutschen Provinz heute ein glasfaserverkabeltes Wohlstandsgebiet. Aber dennoch: eine halbe Autostunde raus aus fast gleich welcher Metropole, und man findet sich in einer anderen Zeitzone wieder.

Ob es hier auf dem Land Klimakleber gebe, fragte ich bei meinem Besuch in Maselheim den scheidenden Bürgermeister Elmar Braun. Nein, antwortete Braun sofort, auf so eine Idee kämen „meine jungen Leute“ gar nicht erst: „Die haben ja ein Leben.“ Die müssten zur Feuerwehr oder zum Fußball, die müssten irgendetwas im Garten machen oder am Haus. Er finde es schade, sagte Braun, dass manche Großstädter darauf im Gefühl moralischer Überlegenheit hinunterblickten.

Und klar, da ist was dran. Wer sich selbst als „woke“ identifiziert und sein Leben dem Kampf gegen Diskriminierung aller Art widmet, mag dazu neigen, die Provinz in ihrem kulturellen Reichtum und ihrer politischen Prägekraft zu unterschätzen. Umgekehrt unterschätzen womöglich manche, dass ein gesundes Maß an Achtsamkeit nicht nur das Zusammenleben in der Stadt, sondern auch im Dorf erleichtern könnte.

Es liegt in der Verantwortung der Politik, ihre Energien nicht in Kulturkämpfen zu verschwenden, sondern Brücken über diesen Graben zu schlagen. Die Verantwortung von Medien ist es, kühl zu sein in der Analyse solcher Konflikte – aber warm, wenn sie über Menschen berichten. Das Denken und Handeln der Leute ernst zu nehmen und verständlich zu machen, das ist eine der nobelsten Funktionen des Journalismus. Und für sich ein Stück Vermittlung.

Roman Deininger

Chefreporter der SZ und seit 2007 bei der Zeitung: erst Volontär, dann Korrespondent für Franken, Korrespondent für Baden-Württemberg und politischer Reporter für Seite Drei und Buch Zwei.